Martin Luther

Kaum 2000 Menschen lebten damals in dem unbedeutenden Städtchen Wittenberg. An der erst vor kurzem gegründeten Universität studierten noch keine 200 Studenten. Und dennoch! Als hier am 1. Oktober 1517 Doktor Martin Luther, Professor der Theologie an genannter Universität, seine 95 Thesen gegen den Ablaßhandel veröffentlichte (daß er sie an das Portal der Wittenberger Schloßkirche geschlagen haben soll, wird heute für eine Legende gehalten), nahm eine neue Zeit ihren Anfang. Aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt, in allen größeren Städten als Flugblatt nachgedruckt, war bald in aller Munde, was da ein bis dahin unbekannter Mönch gegen den Papst in Rom und gegen die mächtige katholische Kirche anklagend vorbrachte.
Unter der Oberfläche hatte es seit Jahrzehnten geschwelt: nicht nur eine moralische Unzufriedenheit mit dem wenig christlichen Leben mancher Mönche, Priester, Prälaten, Kardinäle war zu spüren, sondern eine tief religiöse Unruhe, auf die die ins rein Äußerliche abgesunkene Kirche keine Antwort mehr wußte. Der Ablaßhandel, wie er auf allen Straßen und Märkten betrieben wurde, um Geld in die Kassen der Kirche zu bringen, war dafür ein häßliches Zeichen, und gleich die erste von Luthers Wittenberger Thesen traf die blasphemische Gleichsetzung von Geld und Sünden erlaß ins Herz: "Als unser Herr und Meister Jesus Christus sprach: Tut Buße! da wollte er, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei" (und nicht durch Dukaten abgelöst und ersetzt werden könnte).
Was war das für ein Mensch, der es wagte, Papst und Kirche in die Schranken zu fordern? Wenn man seinen Lebensweg nachzeichnet, findet man kaum eine aufklärende Antwort auf diese Frage. Am 10. November 1483 in Eisleben am Harz geboren - der Vater war Bergmann und besaß später ein kleines Bergbauunternehmen, sollte er Jura studieren. Die Familie wollte mit ihm sozial aufsteigen. Kaum jedoch in Erfurt auf der Hohen Schule angekommen, brach er das Studium jäh ab und wurde Mönch. Er hatte, als während eines Gewitters neben ihm der Blitz einschlug, gelobt, ins Kloster einzutreten.
Aber dieser Entschluß muß lange vorher gereift sein, erwies sich Luther doch von so ursprünglicher und tiefer Religiosität, daß man sich ihn anders, gleichsam weltlich, gar nicht vorstellen kann. Es vergingen noch zwölf Jahre bis zum legendären Thesenanschlag von Wittenberg, aber gewachsen ist dieser letzte revolutionäre Ausbruch langsam im religiösen, nicht im moralischen Bereich, auch wenn sich Luther selbst dessen erst später bewußt wurde.
Zwei tiefe Erkenntnisse hatten sich ihm aus der Lektüre der Heiligen Schrift fast aufgedrängt: zum ersten, daß der Mensch in seiner tiefen, unzulänglichen Sündhaftigkeit zu seiner Seligkeit allein auf die Gnade Gottes angewiesen sei (und nicht auf gute Werke oder gar den Ablaß); zum andern, daß der Mensch unmittelbar vor Gottes Angesicht stünde und nicht der Vermittlung des Priesters, nicht des Papstes bedürfe: Allein in der Heiligen Schrift erkenne er die Wahrheit Gottes, unzulänglich, ja nichts seien dagegen die Aussagen der Kirche und der Konzilien. Luthers Thesen wurden in ganz Deutschland mit leidenschaftlichem Beifall aufgenommen. Die immer wieder herbeigesehnte Reform der Kirche an Haupt und Gliedern schien beginnen zu wollen. Es kam zu Disputationen zwischen Luther und anderen Theologen (die bekannteste im Sommer 1519 mit Dr. Eck auf dem Leipziger Stadtschloß), zu großen Predigten der Reformatoren, die sich Luther angeschlossen hatten; schließlich entstanden 1520 die drei großen Sendschreiben in deutscher Sprache: "An den christlichen
Adel deutscher Nation", "Von der babyionischen Gefangenschaft der Kirche" und "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Besonders die erste Schrift wurde zum wichtigsten Dokument der nun immer deutlicher werdenden Reformation: Sie forderte Kaiser und Fürsten auf, die endliche Erneuerung von Staat und Kirche in eigener Verantwortung in die Hand zu nehmen. Die ganze Nation reagierte mit ungeheurem Jubel. Der Bann, den Rom gegen den frechen deutschen Mönch schleuderte, wurde verlacht, und als Luther schließlich im April 1521 mit kaiserlichem Geleit zum Reichstag nach Worms ritt, begleitete ihn die Begeisterung des ganzen Volkes.
Worms! Es waren die deutschen Fürsten, vor allem Luthers Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, die durchgesetzt hatten, daß Luthers Sache nicht vor dem Papst in Rom, sondern vor Kaiser und Reich verhandelt werden sollte. Nun saßen sie da, an diesem hellen 18. April des Jahres 1521 : die Kurfürsten, Erzbischöfe, Fürsten, Bischöfe, Prälaten, Äbte, Räte, auch Kriegsleute wie Luthers Freund Frundsberg, der berühmte Landsknechtsführer, auch spanische und italienische Granden, an ihrer Spitze aber, halb Flame, halb Spanier, der junge Kaiser Karl V., der das Deutsche bestenfalls halb verstand: Des Römischen Reiches Führerschaft also, um als Rechtens anzuerkennen Luthers Anklagen und Forderungen, wie er sie in seinen Schriften niedergelegt hatte, oder aber um ihn zum Widerruf zu zwingen.
Luther, in seiner schwarzen, armseligen Mönchskutte, den härenen Strick um den
Leib, damals mit seinen 37 Jahren noch mager, schien gegenüber den Großen des Reichs kaum ein großartiger Vertreter der Sache zu sein, die hier verhandelt werden sollte. "Der wird mich gewiß nicht zum Ketzer machen", soll der Kaiser, auf spanisch, gesagt haben. Aber als Luther das Wort ergriff, wurde deutlich, daß er sich in der Hand Gottes wußte und keinen Schritt von seinem Weg abwich. Schließlich rief er mit fester Stimme: "Mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen!"
Am 25. Mai 1521 erklärte der Reichstag gegen Luther die Reichsacht (womit er vogelfrei wurde). Aber der Verurteilte weilte bereits auf der Wartburg, wohin ihn sein Landesherr zu seinem Schutz entführt hatte. Auch später, als er nach Wittenberg zurückkehrte, hat es niemand gewagt, ihn gefangen zusetzen. Da war er jedoch schon nicht mehr der kleine Mönch, der gegen Rom rebelliert hatte, sondern der Mann,  auf den ganz Deutschland blickte und von dem es seine Erneuerung erhoffte.
Gerade dies erwies sich jedoch als tragischer Irrtum. Er wurde am deutlichsten, als sich um 1525 allerorts in Deutschland die Bauern erhoben und unter Berufung auf die von Luther verkündete Freiheit eines Christenmenschen die Burgen ihrer Fronherren nieder brannten und die Wiederherstellung der alten Bauernfreiheiten forderten. Sie glaubten Luther auf ihrer Seite - und sahen sich von seiner Haltung enttäuscht.
Denn Luther hatte nicht die Revolution gemeint und die Umkehrung aller Zustände, sondern die Reformation und Wiederherstellung der alten Christlichkeit. Der Willkür war er feind, auf beiden, auf allen Seiten, und Geltung sollten haben nur die Heilige Schrift und das Gewissen. Wenn jeder nach eigener Willkür leben durfte wie die Wiedertäufer und Schwärmer, die ihr Eigentum gemeinsam besaßen und der heidnischen Vielweiberei huldigten, mußte da nicht das Chaos wachsen und die Zerstörung aller Ordnung, die doch von Gott gesetzt war, die unausweichliche Folge sein? Immer wieder mußte Luther mit Predigt und Schrift in die oft chaotischen Bewegungen eingreifen. Er verlor dabei, weil er oft auch seinen irrenden Anhängern entgegentrat, manches von seinem Ruhm. Desto fester band er sich an die Heilige Schrift. Er hatte 1521, als er auf der Wartburg saß, mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche begonnen, nicht ahnend, daß er auf solche Weise der deutschen Nation die Sprache schuf: Ein Besitztum, das später, als diese deutsche Nation dem Zerfall mehr als einmal nahe schien, das einzige war, was sie zusammenhielt.
Luther starb 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben, 63 Jahre alt, verehrt, berühmt, der große alte Mann der neuen protestantischen Konfession. Aber in Wahrheit hatte sich sein Werk längst von ihm gelöst. Die Welt veränderte sich unaufhaltsam. Das alte Römische Reich Deutscher Nation, dem nun das einigende Band der einen katholischen Kirche fehlte, zerfiel, neu heraufkamen in Deutschland als Machtblöcke die einzelnen Länder, an seinen Grenzen die Nationalstaaten.
 

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