Brüder Lumiere



In einem großen Garten sieht man einen Mann, der mit einem langen Gartenschlauch Blumen begießt. Unbemerkt tritt ein Junge herzu und stellt sich auf den Schlauch. Der Gärtner, der natürlich nichts Böses ahnt, betrachtet interessiert das Ende seines Schlauchs, um festzustellen, warum das Wasser plötzlich ausbleibt. In diesem Augenblick tritt der Junge von dem Schlauch herunter, das Wasser ist wieder frei und spritzt dem Gärtner ins Gesicht. Schadenfrohes Gelächter der Zuschauer!
Dies ist der Inhalt eines der zehn Kinofilme, die am 28. Dezember 1895 von den Brüdern Lumiere im Indischen Salon des Grand Cafe' auf dem Boulevard des Capucines in Paris bei einem Eintrittspreis von einem Franken öffentlich vorgeführt wurden. Jede Vorstellung dauerte 15 Minuten.
Das Datum bezeichnet nicht nur die Geburtsstunde des Films, sondern zugleich den Beginn einer riesigen neuen Industrie, die die Welt verändern sollte. Nicht in erster Linie materiell (wie etwa im Fall der Autoindustrie), wohl aber in den Regionen des Denkens und Fühlens und damit in jenem Bereich, in dem die großen sozialen und politischen Entscheidungen fallen. Im gleichen Jahr war Le Bons berühmte "Psychologie der Massen" erschienen, in der es von der Masse hieß, sie denke in Bildern. Was zugleich bedeutete, dass die Masse, das heißt wir alle in dieser Zeit, durch Bilder gelenkt werden kann. Wer hinfort die Bilder beherrschte, beherrschte folgerichtig das Denken und Fühlen der Menschen, letzten Endes also ihre Handlungen.
Natürlich trat der Film nicht von heute auf morgen in die Welt, auch waren die Brüder Lumiere sicherlich nicht die alleinigen Erfinder. Eine der wichtigsten Voraussetzungen etwa war die Photographie. Denn wenn es auch schon vorher Apparaturen gegeben hatte, mit deren Hilfe bewegte Bilder gezeigt werden konnten, so wurde doch für den Film entscheidend, dass erstens eine Abbildung der Wirklichkeit, zweitens unendlich viele einander kontinuierlich folgende Abbildungen möglich wurden.
Indes wurde nicht das erste Verfahren der Photographie, das Daguerre 1837 erfunden hatte, für den Film wichtig, sondern das 1841 von Talbot entdeckte, das Kopien möglich machte. Auch mußte noch der von dem Amerikaner George Eastman um 1880 entwickelte durchsichtige und biegsame Film hinzukommen (jetzt taucht also auch das entscheidende Wort auf), um den Lumieres das Material zur Verfügung zu stellen, das sie verwenden konnten.
Auguste Lumiere, geboren am 19. Oktober 1862 in Besancon, und sein ebenfalls dort am 5. Oktober 1864 geborener Bruder Louis arbeiteten in der photochemischen Fabrik ihres Vaters. Sie waren also Fachleute. Als sie daher 1894 das "Kinetoskop" kennen lernten, das Edison gerade erfunden hatte,  erkannten sie schnell, dass hier die Zukunft der Photographie lag. Dem Edisonschen Apparat fehlte allerdings noch etwas Wesentliches: die Projektion. Beim Kinetoskop blickte man als einzelner durch einen Schlitz und sah dann im Innern der Apparatur, kleinformatig, die sich vorbeibewegenden Bilder. Wenn es gelang, dieses Betrachten beweglicher Bilder Hunderten von Zuschauern gleichzeitig zugänglich zu machen, hatte man den entscheidenden Schritt in eine neue Welt getan. Die Lumieres brauchten kein ganzes Jahr, um diesen Schritt mit ihrem "Cine'toscope de projection" zu tun. Ihr Apparat war gleichzeitig Aufnahmekamera und mit einer dahinter angebrachten Lichtquelle Projektor. Sechzehn Bilder wurden in der Sekunde belichtet und danach auf die  Leinwand projiziert. Das besondere Verdienst der Lumieres war dabei die Konstruktion des Greifers: Er bewegte den Film und hielt ihn zugleich während der Belichtung für den Bruchteil einer Sekunde fest. 1896 wurde der Greifer, weil er die Perforation der Filme zu stark beanspruchte, noch verbessert und durch das "Malteserkreuz" des deutschen Film-Technikers Oskar Meßter (1866 bis 1943) ersetzt.
Dieser Meßter wurde übrigens der erfolgreichste Filmpionier in Deutschland. Schon 1896 verkaufte er seine ersten Filmprojektoren, produzierte die ersten eigenen Filme und eröffnete in Berlin „Unter den Linden“ das erste deutsche Kino. Auch Atelierfilme stellte er bereits her und entdeckte dabei Henny Porten, die erste große Filmdiva der Stummfilmzeit. Berühmt war seine "Meßter-Woche", die erste deutsche Wochenschau (ab 1914).

Der große Filmname in Frankreich wurde Charles Pathe', an den die Lumieres ihr Patent verkauften. Ihnen war, was da auf sie zukam, rasch zuviel geworden. Wahrscheinlich ahnten sie nicht, reine technische Fachleute, die sie waren, welche ganz neue Welt sich mit dem neuen Medium Film eines Tages auftun würde. Sie sind sehr alt geworden. Louis starb 1948, Auguste 1954: In diesen Jahren gab es bereits den Ton- und Farbfilm.
Auch damit war die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. So wie sich Film und Ton zusammengetan hatten, kam es zwischen Film und Fernsehen zu einer Symbiose. Es gelang 1967 schließlich, den farbigen Tonfilm auf Magnetband zu speichern und damit Licht und Ton auf ihre einfachste Form als elektrische Welle zu reduzieren. Diese letzte Entwicklung erlebten die Brüder Lumiere nicht mehr. Obgleich ihr Name bezeichnenderweise Licht bedeutete, hätten sie ihre Erfindung, so wichtig sie war, als Teil eines Ganzen wahrscheinlich nicht mehr wieder erkannt.

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